Andreas Kunles Gedanken zu Siegfried Schultze

Vom Begleitetwerden zum Begleiten, vom Begleiten zum Verschwinden - eine Entwicklung mit teilweise absonderlichen Zügen

Betrachtet man die Geschichte der Musik für Melodieinstrument und Tasteninstrument seit dem Barockzeitalter (und lässt dabei die Kombination Melodieinstrument/Generalbass einmal beiseite), so sind im Prinzip zwei Linien erkennbar, die in etwa folgendermaßen skizziert werden können:

Zum einen findet sich eine "originär kammermusikalische" Linie, ausgehend von der Paarung aus Melodieinstrument und "obligatem" (unverzichtbarem, eigenständigem) Tasteninstrument (für die Bach mit seinen Sonaten für Violine/Cembalo, Flöte/Cembalo und Gambe/Cembalo die zentralen Werke schrieb). Diese Besetzung löste sich dann offenbar auf in die Kombination "Tasteninstrument und begleitendes [!] Melodieinstrument", um schließlich in die (zunehmend ausgewogene) klassische Sonate für Klavier und Melodieinstrument zu münden.

Zum anderen findet sich eine zweite Entwicklungslinie, und zwar ausgehend von der Solo-Cembalomusik, bei der zum beherrschenden, selbständigen Cembalo ein begleitendes Melodieinstrument hinzutritt. Diese Paarung, die im Prinzip mit der "Zwischenstation" der oben angeführten Linie zusammenfällt, scheint um 1775 in Europa noch vorherrschend gewesen zu sein. Aus ihr entwickelten sich dann die Besetzung "Cembalo und obligates Melodieinstrument" sowie letztlich eben die klassische Duo-Sonate. Tatsächlich gab es bereits um 1775 Sonaten für Violine und begleitendes Klavier.

Nicht zuletzt fällt hier auf, dass in beiden Linien - vor allem natürlich in der zweiten - über einen langen Zeitraum im 18. Jahrhundert (und dann schließlich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein) dem Tasteninstrument zentrale Bedeutung bei den hier beschriebenen Kombinationen zukommt. Tatsächlich spiegelt sich dies neben der Faktur der Werke auch ganz klar in den Titeln: So erscheinen die Kompositionen für Tasten- und Melodieinstrument vielfach zunächst "für Tasteninstrument und Melodieinstrument ad libitum", d.h. dem Tasteninstrument werden eine oder mehrere Stimmen hinzugefügt, die auch weggelassen werden können. Ebenso finden sich Werke für Tasteninstrument "mit Begleitung" durch ein anderes Instrument. Schließlich beginnt das "Begleitinstrument" sich zu emanzipieren, im Falle der Violine ein sicher stark durch die Mannheimer Schule mit ihren zahlreichen komponierenden Geigern beeinflusster Prozess. Die Schritte dieses Verlaufs sind beispielsweise bei Mozart deutlich nachvollziehbar. Trotz der Entwicklung hin zur Ausgewogenheit der klassischen und romantischen Duo-Sonate blieb im Sprachgebrauch des 18. und noch erstaunlich lange im 19. Jahrhundert die Erstnennung des Klaviers üblich, oft war sogar die Rede von Werken für "Pianoforte mit Begleitung". Carl Czerny, zweifelsohne eine der allerwichtigsten Figuren der Musikgeschichte - wenn auch freilich weniger als tiefschürfender Komponist, sondern in erster Linie als einer der Väter, ja vielleicht als der eigentliche Ausgangspunkt des modernen Klavierspiels und der modernen Klavierpädagogik (und damit von gewaltigem Einfluss auch auf die Entwicklungen des Komponierens für Klavier) - führt in seiner Ende der 1830er Jahre erschienenen Pianoforte-Schule ein Verzeichnis aller Klavierwerke Beethovens an, wobei u.a. auch die Klavierkammermusik und Lieder aufgelistet werden. Bereits hier fällt auf, dass das Klavier stets vor allen anderen beteiligten Instrumenten genannt wird, es erscheinen beispielsweise die Violinsonaten als "Sonaten für Pianoforte und Violine", die Cellosonaten als "Sonaten für Pianoforte und Violoncell". Bei den kammermusikalischen Variationenwerken ist gar die Rede von "Variationen […] für Pianof. mit Begl. von Violin [!] oder Violoncell". Und bei der Zusammenfassung aller Werke mit Beteiligung des Klaviers ist dann neben "29 grosse[n] Solo Sonaten" ebenfalls die Rede von "24 Sonaten etc. mit Begleitung", wobei natürlich gemeint ist: Klaviersonaten mit Begleitung durch andere Instrumente. (Interessanterweise heben sich aber die Lieder hiervon ab, da hier ausdrücklich von Stücken "mit Pianoforte-Begleitung" die Rede ist.) Czerny ist dabei keineswegs ein Einzelfall: Auch bei Beethoven, Schubert oder Mendelssohn wird das Klavier vor dem Partner-Instrument genannt. Wer hier begleitete und wer begleitet wurde, geht auch aus einer brieflichen Mitteilung Mendelssohns aus dem Jahr 1829 über eine Privataufführung seiner "Variations concertantes" für Cello und Klavier in England hervor, bei der er mit dem englischen Cellisten Lindley spielte, der das Werk erstmals zu Gesicht bekam. Da heißt es u.a.: "Lindley begleitete vom Blatt recht gut, brachte viele Doppelschläge an…". Nicht nur die Verzierungspraxis fällt hier auf, sondern es zeigt sich in Mendelssohns Wortwahl (der Cellist "begleitete"), dass selbst bei verhältnismäßig ausgewogen komponierten Werken der traditionelle Sprachgebrauch des 18. und frühen 19. Jahrhunderts noch gängig war, der dem Klavier den Vorrang gegenüber dem Partnerinstrument einräumt. Und tatsächlich erschien auch dieses Variationenwerk dann in Wien und Paris unter dem Titel "Variations concertans [!] pour le Pianoforte et Violoncelle". Zur heute üblichen Nennung des Klaviers nach dem Partner-Instrument kam es nach und nach im Lauf des 19. Jahrhunderts. Ab etwa 1850 war es dann üblich, das Klavier erst an zweiter Stelle aufzuführen. Ziemlich genau an dieser Trennlinie stehen die Violinsonaten von Robert Schumann: Während die 1852 gedruckte 1. Violinsonate noch unter dem Titel "für Pianoforte und Violine" erschien, ist bei der nur ein Jahr später gedruckten 2. Violinsonate die Reihenfolge der Instrumente vertauscht.  

Mit dem allmählichen Zurücktreten des Klaviers in die zweite Reihe scheint freilich in vielen Köpfen nach und nach auch das Bewusstsein für die Person am Tasteninstrument abhanden gekommen zu sein. Besonders merkwürdig ist es, dass ausgerechnet dort, wo der Pianist eigentlich immer "nur" als Begleiter fungierte, nämlich im Liedbereich, etliche Namen im allgemeinen Bewusstsein verankert zu sein scheinen (Gerald Moore, Irwin Gage, Geoffrey Parsons, Hartmut Höll, Helmut Deutsch, Staffan Scheja, Ralf Gothoni), während der "Begleiter" des Instrumentalisten - selbst wenn er mit zahllosen Koryphäen aufgetreten ist - leichter aus dem Gedächtnis verschwindet. Bisweilen sind die Namen dieser Künstler nicht einmal mehr im Internet aufzufinden, wo doch heute eigentlich über Krethi und Plethi Informationen in Hülle und Fülle abgerufen werden können.

Eines der - in diesem Zusammenhang mag die Formulierung ein wenig paradox erscheinen - markantesten Beispiele ist der Pianist Siegfried Schultze, der sich quasi in Luft aufgelöst zu haben schien und jahrzehntelang praktisch völlig von der biographischen Bildfläche verschwunden war. Obwohl Schultze bei Heinrich Barth ausgebildet wurde, der solche pianistischen Schwergewichte unterrichtete wie Arthur Rubinstein, Wilhelm Kempff oder Heinrich Neuhaus (der allerdings schnell die Flucht ergriff und sein Heil bei Godowsky suchte und fand), obwohl er dank seiner beachtlichen Fähigkeiten auch als Solist erfolgreich tätig war (wie auch viele andere "Begleiter"), obwohl er mit den ganz Großen kammermusikalisch musizierte, teilte Schultze das Schicksal anderer Musiker (wie z.B. auch Ignace Tiegerman), die nicht nur heute fast gänzlich unbekannt sind, sondern deren Spur sich für lange Zeit beinahe unauffindbar verloren hatte.

Durch glückliche Umstände und sein schon zum Markenzeichen gewordenes "Festbeissen" an musikalischer Materie ist es Wolfgang Wendel nun gelungen, eine Schultze-Rarität aufzutreiben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen: Es handelt sich um ein Klavierrezital des Pianisten vom 10. November 1973 in Ukiah, Kalifornien, in allerdings teils etwas gewöhnungsbedürftiger ("Unterwasser"-) Klangqualität. Schultze war zu diesem Zeitpunkt 76 Jahre alt, seine manuellen Möglichkeiten hatten durch Arthrose gelitten - und dennoch ist er dem anspruchsvollen Programm, mit kleinen Einschränkungen, in erstaunlicher Weise gewachsen. Hier tut sich kein Über-Virtuose pianistisch kund, das war Schultze trotz sehr zuverlässiger Technik gewiss nie, wie man auch an seinen früheren Aufnahmen z.B. von Chopin-Scherzi hören kann. Doch ohne Frage spielt hier ein (technisch immer noch beschlagener!) Musiker auf eine sehr einnehmende Weise Klavier: flüssig, rund, schlicht, sehr natürlich und unaffektiert, dabei nie langweilig, mit singendem Ton. Die Französische Suite von Bach weist einige kleine technische Ungenauigkeiten auf, doch halten die sich im Rahmen und dank der wunderbaren Kantabilität gelingt z.B. die Sarabande ganz besonders schön. Gemessen an heutigen Standards mag das wenig artikulierte Gestalten an Schultzes Bach-Spiel kritikwürdig sein, doch ist umgekehrt die Gefahr einer nervtötenden Über-Artikulation nicht existent. Die sehr anspruchsvolle "Les-Adieux"-Sonate bewältigt der Pianist, wenngleich die schweren Doppelgriff-und Akkordstellen im 1. Satz und die heiklen "Sägezahn"-Passagen im letzten Satz ihm unüberhörbar Probleme bereiten. Durchweg nimmt die kantable Spielweise ein, alles klingt schön, ist im großen Bogen dargeboten, jedoch zugleich dynamisch ein wenig eingeebnet. Die Piano-Anweisungen des Komponisten jedenfalls werden hier wirklich ernst genommen.

Auch in Bartóks "Bärentanz" aus den 10 leichten Stücken, Sz 39/BB 51 (1908), weicht Schultze nicht von seinem ästhetischen Pfad ab: Das Stück er"klingt" im wahrsten Sinne, ohne "Bartók-Härte", fast etwas zu schön. Der Komponist selbst hat das Werk deutlich konturierter (aber nicht gedroschen!), eingespielt.

Einer der Höhepunkte des Programms ist ohne Frage Schultzes Debussy-Darbietung: Hier sind seine grundsätzlichen (klang-)ästhetischen Vorstellungen ungemein stimmig, in "Ce qu'a vu le vent d'ouest" kommt hinzu, dass der Pianist mit großartigem Zugriff die dynamischen Kontraste eindrucksvoll darstellt. "La fille aux cheveux de lin" erklingt wunderbar schlicht, schön und flüssig und aus "La danse de Puck" macht Schultze durch leichtes und duftiges Spiel fast den Tanz eines Luftwesens. Verwirklicht er hier aufs Genaueste die Spielanweisung "leger", so rückt er allerdings das gleichfalls geforderte Kapriziöse etwas in den Hintergrund, spielt rhythmisch nicht ganz so pointiert (wie beispielsweise Gulda).

Es schliesst sich (im wahrsten Sinne des Wortes) "American Caprice" von Morton Gould an: Das Stück wirkt, als hätte es wiederum Debussy, allerdings zusammen mit Gershwin, geschrieben. Dieses "verfremdete" Debussy-Prélude passt erneut bestens zu Schultzes entspanntem, leichtem und schönem Klavierspiel. Ohne Schroffheiten, ohne Übergewicht wird es in Szene gesetzt.

Schultze setzt das Programm dann mit romantischen Komponisten fort (und deckt so mit seiner Stückauswahl die ganz wichtigen Epochen der Musikgeschichte vom Barock bis zur gemäßigten Moderne ab): Zu Beginn hören wir aus Schumanns Fantasiestücken, op. 12 das erste Stück, "Des Abends", gekennzeichnet wiederum durch schlichtes, flüssiges Spiel ohne die (gleichfalls berechtigte!) Bedeutungsschwere anderer Interpretationen. Es folgt aus demselben Zyklus die Nr. 5, "In der Nacht", quasi die (chrono-)logische Fortsetzung. Schultze führt auch in seiner Darstellung die Linie des ersten Stücks weiter: Man erlebt nicht die Hoffmannsche, gespenstische, fantastische, schwül-überspannte Spuk-Nacht, sondern eine weit gesündere, sehr klangschöne Version.

Vielleicht darf man neben Debussy (und Gould) die folgenden Stücke von Chopin als die herausragenden Ereignisse dieser CD bezeichnen. Wiederum ist zu konstatieren, dass Schultzes feine, unaufdringliche, klangschöne Spielweise einfach sehr gut zu dieser Musik passt, zudem hat man - trotz einiger kleiner Fehlgriffe - den Eindruck, dass der Pianist sich - rein technisch - richtig warmgespielt hat. Nocturne und Mazurka werden rund und fließend dargeboten, Extreme finden sich nicht: Der Kontrast des Mittelteils der Nocturne (gewiss wiederum bewusst an Schumanns Stück "In der Nacht" angeschlossen!), wird etwas abgemildert, trotz dosierter Dramatik bleibt das Spiel aber stets interessant. Dies gilt auch für die Mazurka, in der extreme Pointierungen und Schattierungen vermieden werden. Die in Schultzes Interpretationen erkennbare Neigung zum weichen Übergang, zur Vermeidung von Rauhigkeit und zur Milderung von Kontrasten weist (zumindest im Falle dieses Konzerts in Ukiah) eine interessante Parallele in der Gestaltung des Programms mit fließenden Übergängen von einem Programmpunkt zum nächsten auf. Und wenn das Spiel eines Pianisten Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zulässt, dann muss Siegfried Schultze ein ausgesprochen ausgeglichener, substantieller, unprätentiöser (aber alles andere als langweiliger) Mensch gewesen sein.

Hatte man vielleicht zu Beginn des Abends, vor allem bei manchen Stellen in Bachs Französischer Suite und Beethovens "Les-Adieux"-Sonate, den Eindruck, dass dieser Pianist nicht (mehr) ganz auf der Höhe (und von der Arthrose in seinem Spiel vielleicht doch etwas stärker beeinträchtigt sei), so zeigt sich in den Chopin-Etüden, über welch wunderbare technische Möglichkeiten Schultze trotz Krankheit und immerhin 76 Lebensjahren immer noch verfügte: Insbesondere fällt dies bei der heiklen cis-moll-Etüde, op. 10, 4  auf, die mit staunenerregender Geläufigkeit und Leichtigkeit dargeboten wird. Ein paar läppische Fehlgriffe kann natürlich jeder Esel hören, sie haben aber mit der technischen Beherrschung an sich absolut nichts zu tun, an der nicht der geringste Zweifel besteht. Auch die Zugaben (e-moll-Walzer und Etüde op. 25, 3) zeugen vom immensen pianistischen Können dieses auch als Solist so unaufdringlich erscheinenden "Begleiters". Aber  unaufdringliches Spiel birgt eben oft auch die Gefahr, zu unauffälligem und dann unbeachtetem Spiel zu werden… 

Andrea Kunle