Elias Corinth über seine „Erzäh­lungen"

Der Zyklus „Erzählungen für Klavier” wurde im Frühjahr 2016 in Oldenburg begonnen und entstand großteils im Herbst 2016 in Mannheim. Die 39 Kla­vierstücke bilden ein zusammenhängendes Ganzes, einen Zyklus von etwa einer Stunde Dauer, jedes Stück kann aber auch einzeln gespielt werden. Sie sind im Wesentlichen nach ansteigenden musikalischen und technischen Schwierigkeiten angeordnet: von den „Kleinen Abenteuern“ für junge Spieler bis zu einer ausgewachsenen Klavier­sonate. Zur Eröffnung des Zyklus dienen fünf „Skizzen“, fast formlos hingeworfene Ideen, die aber schon die Aus­drucksbereiche der ganzen „Erzäh­lun­gen“ umreißen. Ein wichtiges Thema des Zyklus ist sicher das Erwachsenwerden: das zeigt sich zunächst am Alter der Interpreten, das von der frühen Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter reicht – aber auch der musikalische Ausdruck kann sich mit zunehmender Länge der einzelnen Stücke und zunehmendem technischen Anspruch immer mehr entfalten. Wie soll also ein solcher Zyklus beginnen? Die Person, die aus der Musik zu uns spricht, hat sich zu Be­ginn noch nicht selbst gefunden, ei­gentlich wohnen wir fast ihrer Geburt bei: in der Introduktion, zu Beginn der Fünf Skizzen, wird jemand (wie in Becketts „Akt ohne Worte“) am Schla­fittchen ins Scheinwerferlicht geworfen, hat keine Ahnung, wer und wo er ist, und soll jetzt aber musikalisch zu uns sprechen. Das ist die erste musikalische Geste der Introduktion, die Töne E-A-Es-C-H, die musikalische Chiffre für meinen Namen, die sich gleich echo-artig in Träumerei verliert. Da meldet sich irgendetwas bedrohlich aus der Tiefe – die erste Geste reagiert mit einer ausdrucksvollen Linie, das ist der Beginn des musikalischen Ausdrucks. Nach einigen Risoluto-Takten erscheint eine sternenklare, geheimnisvolle Ak­kordfolge, ein kleines rufendes Motiv, doch die Anfangsgeste verliert sich wieder in träumerischer Höhe und endet dort mit der Terz E-C. Eine erste Si­cherheit in dieser unbekannten Welt. Im zweiten Stück, „Begegnung“, wird diese Sicherheit gleich auf die Probe gestellt: ein neues Motiv erscheint in der Tiefe, es bellt eine Heraus­for­de­rung, droht das vorherige Material zu überwältigen, aber die Terz findet zu Kraft und Stärke, ertönt von beiden Enden der Klaviatur, und das neue Motiv macht sich davon. Die weiteren Skizzen zeigen exemplarisch die Ausdrucksbereiche der „Er­zäh­lungen“: das Geheimnisvoll-Mysti­sche, das Ausdrucksvolle und auch das Komische. Das „Geheimnis“ mit seinen an Messiaen erinnernden Akkorden soll trotz aller Schlichtheit immer poetisch klingen, es schwingt immer eine Ah­nung der Eichendorff’schen Mondnacht mit. Im „Scherzo“ genügt für eine kurze musikalische Anekdote das Gegen­überstellen weniger Motive – vielleicht ein Waldschrat, der einer Nymphe be­gegnet? Musikalischer Humor ist ja meist nichts anderes als geistreiche Ironie. Die letzte Skizze, ein „Choral“, beginnt wieder geheimnisvoll, versucht aus dieser Stimmung auszubrechen, fällt dann aber zurück in die Stimmung des ersten Stücks. Die Person, die aus der Musik spricht (analog zum „Lyrischen Ich“ in der Lyrik könnte man wohl vom „Musi­kalischen Ich“ sprechen?), hat nun also ihre ersten Ausflüge und Erkundungen hinter sich, hat sich in dieser unbekannten musikalischen Welt schon etwas zurecht gefunden und ist bereit für weitere Abenteuer. Die Kleinen Abenteuer sind mein Ver­such, musikalisch nicht anspruchslose Musik für junge und sehr junge Spieler zu schreiben. Ich bin ausdrücklich kein Klavierpädagoge, erinnere mich aber noch gut an meine eigene Kindheit am Klavier. Um die Stücke unkompliziert zu halten, habe ich beispielsweise bei man­chen Stücken den Tonvorrat der Hän­de begrenzt, ostinate Rhythmen verwendet oder überhaupt jedem Fin­ger genau eine Taste zugeordnet. Im Nachhinein habe ich etwas Sorge, mu­sikalisch nicht zugänglich genug ge­schrieben zu haben... die zentralen Themen der „Erzählungen“ sind nämlich dem jungen Alter der Spieler ab­sichtlich nicht angepasst worden: es geht nach wie vor um abstrakte Motive im Widerstreit („Unterbrechung“, „Ge­gen­wehr“, „Invention“), nächtliche Na­tur­erlebnisse („Wald im Nebel“, „Nächt­liche Landschaft“, „Waldesnacht“) und musikalische Geheimnisse („Wellen­schlagen“, „Hall und Widerhall“) – das sind nun einmal die Dinge, die ich „erzählen“ möchte. Wohlweislich gibt es – wegen der oft geringen Körpergröße der Interpreten – Stücke, die ganz ohne Pedal zu spielen sind; andere Stücke sollen von Anfang bis Ende mit getretenem Pedal gespielt werden, wobei das Pedal auch mit ei­nem Gewicht fixiert werden kann. Mit dem friedlichen „Windspiel“ (das auf der Terrasse meiner Eltern hängt) klingen die Kleinen Abenteuer aus. Die Klavierstücke aus Wiepersdorf sind die einzigen älteren Kompo­si­tionen, die ich in die „Erzählungen“ aufgenommen habe. Sie sind im Sep­tember 2010 im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf in Brandenburg entstanden und als Abschiedsgeschenk meinem Klavierlehrer Takuhiro Murayama gewidmet. Für die Aufnahme in die „Er­zählungen“ habe ich die Stücke leicht überarbeitet, vor allem aber in eine festere rhythmische Form gebracht – sie waren ursprünglich ohne Taktstriche notiert – und die Titel hinzugefügt. Ein zu Beginn des ersten Stücks äußerst langsam vorgetragenes Motiv aus sechs Noten durchzieht in ständiger Wandlung den kleinen Zyklus. Erst bei der Überarbeitung bemerkte ich, dass ich mit diesem Motiv unbemerkt aus dem Rosenkavalier zitiert haben könnte: „Wo war ich schon einmal und war so selig?“ – Seligkeit findet sich allerdings nicht viel in diesen Stücken, eher meditative Versunkenheit, unterbrochen von jähen Ausbrüchen rhythmischer Energie, im vierten Stück gesteigert bis zu höchster wütender Kraft. Auch dieser kleine Zyklus findet am Ende wieder zurück in den genauen Zustand des Anfangs. Das „musikalische Ich“ hat in der Innenschau vielleicht Erkenntnisse gewonnen, nach außen hin ist aber nichts geschehen. Vielleicht findet man in der Besinnung auf sich selbst Energie für neue Aufbrüche – ein Spiegel meiner persönlichen Situation, als ich 2010 zur Auf­nahme meines Studiums meine Hei­matstadt verließ. Auch für mich als Komponist war die Arbeit an den „Erzählungen“ eine ge­wisse Selbstfindung: wer eine so große Anzahl an Stücken schreiben möchte, muss dafür ein Idiom wählen, in dem er sich wirklich zu Hause fühlt, eine Klangsprache, die ihm leicht von der Hand geht. Je mehr Stücke ich also schrieb, desto mehr besann ich mich auf meine Wurzeln, die in der Sinfonik liegen, in der Oper (die ich sehr liebe und für die ich täglich arbeite) und durch mein Elternhaus auch in der Kir­chenmusik. So bemerke ich nun im Nach­hinein, wie man in den Fünf Im­promptus in sehr gedrängter Form alle Ausdrucksbereiche einer Mahler-Sym­phonie angedeutet sehen kann. Zuerst ein widerspenstiger Kopfsatz mit kontrastierenden Themen, dann ein hingetupftes Nachtstück (ein „typischer Cor­rinth“?), dann das ironisch tänzelnde Scherzo, das sich im Mittelteil in grübelnde Melancholie verliert. Das Adagio nimmt das zweite Thema des Kopf­satzes wieder auf und führt es zu einem schmerzlichen Höhepunkt (wo es verächtlich in der Tiefe zermalmt wird). Nur hoffnungslose, einsame Rufe bleiben übrig, und schaurig tönt es aus dem Abgrund. Hier setzt der letzte Satz an, ein echtes „Finale“, das sich aus eigener Kraft ins Positive durchringt. Die Sonate für Klavier ist das Haupt­werk der „Erzählungen“. Der kurze erste Satz ist ganz sanft und impressionistisch, einige Motive werden angedeutet, alles ist etwas matt und kraftlos, und rasch löst sich die Musik in einer sanften Klangwolke auf... da bricht der zweite Satz herein: eines der Motive hat plötzlich gewaltige Kraft gewonnen, in dem Aufruhr kann der ausdrucksvolle Seitengedanke keinen Halt finden und wird in den donnernden Abgrund gerissen. Ein Zwischenspiel, aus ganz wenigen hingetupften Noten bestehend, schafft Raum für den längsten Satz der So­na­te, die „Fantasie über ein altes Osterlied“, die meinem Vater Prof. KMD Hans Martin Corrinth gewidmet ist. Obwohl ich kein religiöser Mensch bin, habe ich hier versucht, einigen religiösen Gedanken Ausdruck zu verleihen. In dem langen Aufbau findet das „musikalische Ich“ zu Stärke und Er­kenntnis. Nach einem mächtigen Höhe­punkt zerfließt die Vision in unerreichbare Ferne. Ohne Unterbrechung schließt sich das „Finale: Introduzione - Rondo a briglia sciolta” an, wie ein Echo der Vi­si­on tönt es aus der Tiefe. Dann Fan­faren aus wei­tester Ferne, die aber die große Ruhe nicht stören können. Schließlich ein Sturmläuten im Fortis­simo, das ist das Aufbruchssignal. Die Musik hat ihre innere Kraft gefunden und kann das Anfangsmotiv der Sonate triumphal wie­der aufnehmen. Dann be­ginnt das „Rondo a briglia sciolta“, ein Rondo „mit verhängtem Zügel“, ungebremst in Aus­­druck und rhythmischer Energie, bis zum Ende, einem Wirbel­wind übermütiger Glissandi. Der Epilog beschließt die „Erzäh­lun­gen für Klavier“: Motive aus allen Stück­gruppen klingen als Rückblick noch einmal auf, als Erinnerung an die Erleb­nisse des Tages. Plötzlich er­scheint un­erwartet noch ein ganz neu­es Thema, vielleicht ein Ausblick auf zukünftige Abenteuer? Aber für diesmal gibt es nichts mehr zu erzählen. Mit einer Um­kehrung der Eröffnungsgeste endet der Epilog, eine lakonisch abwinkende, mu­sikalische Unterschrift.