PODIUM - Wolfgang Wendel
Man scheint einem Phantom nachzujagen: ab den Zwanziger Jahren begleitet der Pianist Siegfried Schultze Bronislaw Huberman 12 Jahre lang und Georg Kulenkampff fast ein Vierteljahrhundert auf dem Podium und bei Schallplattenaufnahmen. Bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein konzertiert er mit Kulenkampff. Daneben - und danach - gibt es (noch 1951!) einige Klavier-Solo-Aufnahmen.
Am 24. Oktober 1932 spielt Schultze in Prag - unter der Leitung von Georg Szell - zusammen mit Bronislaw Huberman und Emanuel Feuermann Beethovens Tripel-Konzert.
Am 30. 6. und am 7. 7. 1942 nimmt er mit dem Klarinettisten Luigi Amodio 12 Werke für Klarinette und Klavier von Weber, Schumann und Brahms auf.
Über Schultzes Frühzeit gibt ausschließlich Erich Hermann Müller’s Deutsches Musiker-Lexikon von 1929 Auskunft.
Mehr war auch mittels Internet nicht zu finden - bis auf eine Angabe, auf die mich Holger Bünte aufmerksam machte: Elizabeth MacDougall in Ukiah/USA nennt Siegfried Schultze als einen ihrer Lehrer!
Siegfried Schultze, am 12. September 1897 in Eisselbitten/Ostpreußen [heute Sirenevo; ca. 17 km nördlich von Königsberg, heute Kaliningrad] als eines von 5 Kindern des Rittergutbesitzers Franz Schultze geboren, zeigt früh und anhaltend so deutliche musikalische Interessen, dass ihn die Eltern zum „besten erreichbaren Klavierlehrer“ schicken.
Diese „besten“ sind zunächst ein Herr Wandelt in Dessau und bis zum 15. Lebensjahr Georg Dohrn in Breslau.
Danach studiert er bis zum 20. Lebensjahr bei Heinrich Barth, Engelbert Humperdinck und Leo Schrattenholz an der ‘Hochschule für Musik der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin’ [zeitgleich mit Kempff und Kulenkampff].
Ab 1917 beginnt er seine Konzertlaufbahn. Früh spielt er bei der Beethoven Association New York.
Bereits 1921 zählt ihn Walter Nieman in Meister des Klaviers zu den „ernsten und tüchtigen Spielern“ aus „Heinrich Barths akademischer Meisterschule“, die „schöne Hoffnungen erwecken“.
Ab 1923 lebt und lehrt Schultze in Berlin.
Hier lernt er den Geiger Bronislaw Huberman kennen, woraus eine 12 Jahre andauernde Partnerschaft resultiert, die ihn buchstäblich „durch alle Welt“ führt.
Mit Kulenkampff konzertiert er - wie oben gesagt - bis weit in den II. Weltkrieg hinein. Kulenkampffs Sohn Caspar weist z.B. für die Zeit um 1935-36 auf das häusliche Proben seines Vaters zusammen mit ‘Teddy’ Schultze hin.
Als Solist unternimmt Siegfried Schultze zwischen 1920 und 1930 Tourneen durch die Tschechei, Ungarn, Holland, Amerika, Ägypten und den Balkan.
In den 1930er Jahren leitet er die Klavierabteilung der Musikakademie Hannover.
In dieser Zeit lernt er Bianca Fischer, Sopranistin an der Oper in Königsberg, kennen - und heiratet sie 1936.
Trotz „Zurede“ treten Schultze und seine Frau nicht in die Partei ein. Sie machen sehr schnell die Erfahrung, dass man sich auch anscheinend zuverlässigen Freunden gegenüber mit Meinungsäußerungen vorsichtig verhalten muß.
Während des Zweiten Weltkrieges wird Schultze vom Militärdienst freigestellt, muss sich aber für zivile Dienste zur Verfügung halten.
Während der Fliegerangriffe auf Berlin fällt das Haus, in dem sie wohnen, Brandbomben zum Opfer - und damit ihre gesamte Habe, einschließlich zwei Flügeln. Sie besitzen nur noch den Inhalt zweier Rucksäcke, die sie in den Luftschutzkeller mitnahmen. „Wie wir überlebten, war ein Mirakel!“
Die Nachkriegsjahre sind von starken Existenzproblemen geprägt. 1951 können Schultzes dank der Bürgschaft einer Tante von Bianca nach Los Angeles übersiedeln, wo sie zunächst nur dank der materiellen Hilfe eben dieser Tante „über die Runden kommen“. Siegfried gibt Privatuntericht und nimmt gelegentliche Konzerte wahr. Mit zwei aus Deutschland stammenden Schwestern kommt es zur Gründung eines Klaviertrios. Bianca arbeitet eine Zeit lang an einer Handelsschule, bevor sie eine Sekretariatsstelle an einer Privatklinik bekommt. Mitte der 50er Jahre erhalten Bianca und Siegfried die amerikanische Staatsbürgerschaft.
1952 vermittelt der Organist und Chorbegleiter William Mintner den Kontakt zu Esther Munroe - Lehrerin, Kirchenchorleiterin, Gründerin der Ukiah Oratorio Society - die Siegfried Schultze als Begleiter und musikalischen Berater engagiert.
Zuhause installiert Schultze ein Klavierunterricht-Studio. Bianca bekommt eine Stelle beim Hillside Community Hospital.
Schultze wird in seinem neuen Wirkungskreis offenbar völlig angenommen und übernimmt - nachdem sich Esther Munroe 1965 zur Ruhe setzt - die Leitung der Ukiah Oratorio Society. In der Folgezeit führt Schultze mit dieser Institution Oratorien von Bach, Händel, Haydn und Mendelssohn auf. Mit Brahms’ Requiem, bei dem Bianca den Sopran-Part singt, lobt die Presse, er habe „directly and indirectly contributed a great deal in the furtherance of good music in our community“.
Nach Beendigung der Leitung der Ukiah Oratorio Society führt Schultze seine private Unterrichtstätigkeit fort.
Walter Ihl: „Obwohl Siegfried Schultze in allen Perioden der Musikgeschichte sehr genau bewandert war, war er in seinem Herzen immer ein Romantiker. Chopin war vielleicht sein Lieblingskomponist. Er konnte jedes Stück dieses Komponisten jederzeit auswendig spielen.
Bei Gesellschaften im Haus von Freunden forderte man ihn immer auf zu spielen. Er erwies ihnen stets mit schönen Darbietungen seiner Lieblingskonzertstücke den Gefallen.
Schultze spielt kein Klavier mehr [1985 mit 88 Jahren]. Er kann es nicht. Rheumatische Arthritis ließ die Gelenke an beiden Händen anschwellen, so dass seine Finger jetzt gekrümmt und verkrampft sind. Er hat jedoch ein Vermächtnis hoher Unterrichtsmaßstäbe hinterlassen, das mehrere seiner früheren Schüler für eine professionelle Laufbahn vorbereitet hat.
Vielleicht können sein Leben und seine Karriere am besten in einer Ehrung aus dem Jahr 1973 durch den Mendocino County Messiah Chor zusammengefasst werden, der ihn als ‘einen Meistermusiker, einen wertvollen Freund, aber am allermeisten als eine Quelle der Inspiration und der Ermutigung für die, welche mit musikalischen Bestrebungen beschäftigt sind’ beschreibt.“