Tatjana Grindenko

Über Tatjana Grindenko schrieb ich 1982 für die Neufassung von Farga: Geigen und Geiger”:

Tatjana Grindenko (i944 Charkow) kam siebenjährig an die Musikschule ihrer Heimatstadt und debütierte bereits zwei Jahre später mit Werken von Bach. Weitere öffentliche Auftritte mit Violinkonzerten von Wieniawski und Paganini folgten. Nach kurzem Unterricht in Leningrad kam sie zu Jankelewitsch an die Zentrale Musikschule und danach ans Konservatorium in Mos­kau. Nach Beendigung ihres Studiums wurde sie Assistentin von Jankele­witsch. Schon während ihres Studiums errang sie mit ihrer fundierten Technik und temperamentgeladenen Musikalität eine Reihe von nationalen und inter­nationalen Preisen: 1. Preis und «Orpheus» beim Weltjugendfestival-Wettbe­werb in Sofia, erster Preis im Allunions-Wettbewerb 1969, vierter im Tschai­kowsky-Wettbewerb 1970, erster im Wieniawski-Wettbewerb 1972. Tatjana Gridenko war in erster Ehe mit Gidon Kremer verheiratet. Ihre Duoaufnah­men gehören zu den ganz wesentlichen Schallplatten. Ihr Interesse und ihre Aktivitäten sind von erstaunlicher Vielfalt; sie reichen von Musik des Mittelal­ters, die sie auf der Viola d’amore spielt, bis zu zeitgenössischen Werken (z.B. Schnittke). Um Mitte der siebziger Jahre wirkte sie aktiv in einer Moskauer Beat-Gruppe mit. Ihre bisherige Entwicklung verspricht auch für die Zukunft einen der vordersten Plätze unter den russischen Geigern nicht nur ihrer Generation.

Zwanzig Jahre später verfasste ich folgendes Kurzportrait und damit zusammenhängende Rezension für SCALA

(Original-Text weicht u.U. geringfügig vom redigierten Text ab)

Tatjana Grindenko auf „Neuen Bahnen“

Wer bitte ist Tatjana Grindenko? Wenn es „Neue Bahnen“ gibt, muss es doch auch „Alte Bahnen“ gegeben haben! Und ob!

Tatjana Grindenkos früher Wunsch „Ich wollte die beste Geigerin der Welt wer­den!“ führte die 1944 in Kharkow Gebo­rene als Sechsjährige schnurgerade über die Musikschule ihrer Heimatstadt (wo sie bereits zwei Jahre später - zusammen mit dem Kharkow Symphony Orchester - ein Violin-Konzert von J. S. Bach aufführte) und einem kurzen Studium bei Sergejew in Leningrad zu Prof. Juri Jankelewitsch an der Zentralen Mu­sikschule und am Konservatorium in Moskau. Wettbe­werbserfolge reihten sich bald wie Perlen an einer Kette: 1. Preis und Goldme­daille beim Internationalen Jugendwettbewerb Sofia 1968; 1. Preis beim All-Unions Vi­olin Wettbewerb 1969. 4. Preis im Vierten Internationalen Tschaikowsky-Wettbe­werb 1970. (Gidon Kremer, mit dem sie später einige Jahre verheiratet war, be­legte den Ersten Platz...); 1. Preis beim Internationalen Wieniawski-Wettbewerb in Poznan 1972! Spätes­tens hier offen­barte sich durch ihr „flammendes“ Spiel einer ihrer Grundzüge: was sie anpackt, sie tut es mit „ganzer Seele“ und anschei­nend unversiegbarer Energie!

Nach Beendigung des Studiums am Mos­kauer Konservatorium wurde sie 1971 Jankelewitschs Assistentin. Als Duo- und Lebens-Partnerin von Gidon Kremer stand sie von Anfang an nicht in dessen künstlerischem Schatten. 1977 beschei­nigte ihr der „Wiener Kurier“ nach einem Konzert bei den Salz­burger Festspielen: „Das Wunder an diesem Abend war die Tatsache, dass da eine junge Frau an Kremers Seite geigte und man, sobald man die Augen schloss, nicht mehr hätte sagen können, wer da nun die Oberstimme und wer die zweite Geige spielte.“ Ebenfalls 1977 hoben sie Alfred Schnittkes Konzert für zwei Violinen und Arvo Pärts Tabula rasa aus der Taufe. Kremer-Grindenko wurden für Jahre Syn­onym für das Spiel auf zwei Geigen.

Was so erfolgreich begonnen hatte, nahm um 1978 die in der Sowjet-Union zu be­fürchtende Wendung: aufgrund ihres Ein­tretens für Dis­sidenten konnte Tatjana Grindenko rund ein Jahrzehnt lang Aus­landsverpflichtungen kaum mehr wahr­nehmen. Dafür weitete sie ihre Aktivitä­ten „vor Ort“ mit der ihr eige­nen Zielstre­bigkeit aus. 1982 gründete sie mit der „Moskauer Akademie für Alte Musik“ das erste Barock-Ensemble in Osteuropa, das sich „Originaler Aufführungspraxis“ widmete. Alsbald erstreckte sich ihr Wir­kungsradius von Musik des Mittelalters über die „normalen Bereiche“ hin bis zur Mitwirkung in einer Moskauer Beat-Gruppe und zu experimenteller Musik an vorderster zeitgenössi­scher Front. Hiervon konnte man sich z.B. im Westen gegen Ende der achtziger Jahre bei Hannes Nimpunos Festival Zeitklänge im Steirischen St. Gallen ein erstes Bild machen. Wechselwirkungen zwischen der Interpretin und Komponisten konnten nicht ausbleiben. Schnittke, Artiomov, Martynov, Pärt, Sylvestrov und andere namhafte russische Komponisten haben Tatjana Grindenko Werke zugeeignet. Luigi Nonos letzte Komposition „Hay gue camminar“ für zwei Violinen ist ihr und Gidon Kremer gewidmet. Hervorzuheben ist auch die Uraufführung des von ihr wiederentdeckten Violinkonzertes von Roslavetz.

Tatjana Grindenkos Kooperation mit dem Komponisten Vladimir Martynov sollte sich für beide Seiten als sehr anregungs­reich erweisen. Aufbauend auf die „Mos­kauer Akademie für Alte Musik“ gründete sie zusammen mit Martynov das En­semble OPUS POSTH., zu dessen Kern-Repertoire Werke von Pärt, Kancheli und - allen voran - Vladimir Martynov.

Der Name OPUS POSTH. spiegelt Tat­jana Grindenko und Vladimir Martynov zunächst paradox erscheinende Grund­haltung wider: Musik ist - für Komponisten, Interpreten und Zuhörer - einer „Kommunikation mit dem Universum“ vergleichbar - und komme daher sehr gut OHNE Komponisten aus! Hier liegt auch der Grund, weswegen die Ensemblemitglieder bei Konzerten ihre Gesichter mit Masken bedecken., um die Zuhörer nicht durch Konzentration auf die Ausführenden aus dem Kontakt mit dem „universa­len Geschehen“ zu reissen. Tatjana selbst bezeichnet sich dabei - in unerbittlicher Bescheidenheit - als „Sprachrohr Gottes“.

Vom Podium aus reißt Tatjana Grindenko mit ihrem Können und energiegeladenen Ausstrahlung wie eine an beiden angezündete Kerze nach wie vor ihre Musiker (für die sie die in allen Belangen bedingungslos akzeptierte Leitfigur ist) und ihr Publikum mit.

Wolfgang Wendel

Vladimir Martynov

Night in Galicia

Tatjana Grindenko (Violine und Leitung), Ensemble OPUS POSTH., Moskau, Folk-Ensemble Dmitry Pokrovsky

CCn’C/inakustik 00802  DDD

 

Von allen im Rahmen dieser Geigerinnen-Portraits vorgestellten Werken ist Martynovs Night in Galicia das mit Abstand am gewöhnungsbedürftigste.

Night in Galicia - ein auf „magischen Liedern von Flussmädchen und Walddämonen“ basierendes „Klang-Gedicht“ Velimir Khlebnikovs in einer „Sprache, die niemand kennt“, jedoch offenbare Analogien zu Schamanen-Sprachen aufweist - konfrontiert mit einer vielleicht nur noch in Russland denkbaren Vorstellungswelt. - Vogelrufe (wie sie in der Tat bei Sitzungen der Jakuten, Jukagiren, Tschuktschen oder Golden verwendet werden), Signale von Dämonen, Nymphen, Wind- und Waldgeistern werden zu einem alptraumhaft-ekstatischen und archaisch anmutenden Ritual verwoben, aus dem erst der mit vertrauteren Harmonien herannahende und alles wieder auslöschende Morgen erlöst. OPUS POSTH. und das Folk-Ensemble Pokrovsky lassen uns unter Tatjanas energiegeladener Führung in Martynovs urtümlich-moderne, Kulturen und Zeiten auflösende Klangräume eintauchen - wenn wir alle Widerstände abschaltend treiben lassen ....

Lesen Sie Vorstehendes einige Male. Wir kommen mit westlichen, wissenschaftsdiktierten Konventionen nicht sehr weit.

Dmitry Pokrovsky: „Diese Lieder sind ein Fenster zur russischen Seele“. (69:51)

Interpretation:        überragend
Klang:                   sehr gut bis überragend

Wolfgang Wendel